Seneca - De Otio (Über die Muße)

Übersetzung und Einführungstext von Rainer Lohmann


Büste Senecas
(Antikensammlung Berlin)

Seneca (ca. 1 v. Chr. bis 65 n. Chr.) gehört zu den bedeutendsten Vertretern der Silbernen Latinität. Seine philosophische Schriftstellerei umfasst die Moralischen Briefe an Lucilius und Fragen der praktischen Philosophie gewidmete Dialoge, die, anders als der moderne Begriff "Dialog" es vermuten lässt, keine strenge Gesprächsform aufweisen, so dass es richtiger wäre, von Schriften mit einem dialogischen Charakter zu sprechen, insofern der philosophische Argumentationsgang durch die gedachten Einwände eines Gegenübers (fictus interlocutor) zur Verlebendigung des Inhalts unterbrochen wird.

Senecas Dialog De otio, der hinsichtlich seines Anfangs und seines Endes eine fragmentarische Überlieferung aufweist, ist wahrscheinlich kurz vor seinem Rückzug aus dem politischen Leben im Jahr 62 entstanden. In diesem philosophischen Traktat setzt sich Seneca mit der Frage nach der richtigen Lebensform auseinander: Verdient ein Leben, das sich der Politik verschrieben hat, den Vorzug gegenüber einem Leben in der Muße? Da der Rückzug aus der Öffentlichkeit und die Hinwendung zur philosophischen Kontemplation in einer zurückgezogenen Daseinsform (secessus) für römisches Denken keine Selbstverständlichkeit waren – zeichnete sich doch der vir vere Romanus durch eine aktive Teilnahme am Staatsleben aus –, bedurfte die Präferierung eines Lebens in der Muße (otium) stets einer besonderen Legitimation. Eine solche Rechtfertigung möchte Seneca mit seinem Dialog De otio leisten.

Aufbau und Gedankengang von Senecas Dialog De otio

1. Exordium (I)

Seneca leitet seinen philosophischen Traktat mit einem Lobpreis des otium ein, der seine Wertschätzung dieser Lebensweise zum Ausdruck bringt, da sie dem Leben eine gewisse Gleichmäßigkeit verleihe und es davor bewahre, bedrohlichen Schwankungen zu erliegen. Den Einwand eines fiktiven Gegenübers, er verstoße mit dieser Position gegen die Lehrmeinung der Stoiker, weist er zurück, indem er deutlich macht, seine stoischen Lehrer selbst hätten ihm diesen Weg gewiesen: Quid ergo est? non quo miserint me illi, sed quo duxerint ibo. (I5)
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2. Propositio (II)

Seneca teilt zunächst sein übergeordnetes Beweisziel mit. Er möchte mit den folgenden Überlegungen den Nachweis antreten, dass er mit seiner Bewertung des otium keineswegs den Boden der stoischen Philosophie verlassen hat. Wer sein Leben von klein auf in den Dienst der Betrachtung der Wahrheit (contemplationi veritatis: II1) gestellt habe oder nach dem aktiven Leben (emeritis stipendiis: II2) sich hierzu entschließe, handele im Geist der stoischen Philosophie und verdiene nicht den Ruf eines Deserteurs.
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3. Argumentatio (III-VI)

3.1 Voraussetzung (1): Die Muße und ihr Nutzen (III)

Seneca tritt nicht sofort seinen Beweis an, sondern stellt diesem zwei Voraussetzungen voran. Die erste Voraussetzung bezieht sich auf den Unterschied zwischen Epikureern und Stoikern: Während für die Epikureer das Leben im otium den Normalfall darstellt und die Teilnahme am Gemeinwesen eher die Ausnahme bildet, verdient für die Stoiker die politische Betätigung den Vorzug gegenüber der Existenzform des otium, die nach stoischer Auffassung ihre Berechtigung nur in Ausnahmefällen hat. Entscheidend ist für Seneca jedoch die Erkenntnis, dass beide Lebensentwürfe auf Nutzen hin angelegt sind und selbst derjenige, der in der Abgeschiedenheit philosophischer Kontemplation nur sich selber nützt, auch anderen hilft, insofern er ihnen ein nachahmenswertes Vorbild sein kann: […] sic quisquis bene de se meretur hoc ipso aliis prodest quod illis profuturum parat. (III5) Folglich erachtet Seneca den Widerspruch zwischen einer politischen Existenz und dem Leben im otium bei genauerer Betrachtung als einen scheinbaren, da beides auf seine Weise nützlich ist.
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3.2 Voraussetzung (2): Der Mensch als Kosmopolit (IV)

Gemäß stoischer Auffassung gehört der einzelne Mensch nicht nur einer konkreten Staatsgemeinschaft an, sondern er ist immer auch Bürger des Kosmos, indem er, wie es die οικείωσις-Lehre zum Ausdruck bringt, als Geistwesen mit allen anderen, die an der kosmischen Vernunft Anteil haben, einen Staat konstituiert, der dem politischen Gebilde, in dem er real lebt, übergeordnet ist. Dass man diesem größeren Gemeinwesen im otium eher dienen kann, versteht sich für Seneca von selbst; ist es doch dem Menschen unter dieser Bedingung möglich, über ethische und naturwissenschaftliche Fragen nachzusinnen, die für die gesamte Menschheit eine grundlegende Bedeutung haben. Senecas Argumentation gipfelt in der Aussage, dass der Mensch durch eine derartige Kontemplation der Gottheit selbst einen Dienst erweise, indem er zu einem Zeugen für ihr grandioses Wirken in der Welt werde: Haec qui contemplatur, quid deo praestat? Ne tanta eius opera sine teste sint. (IV2)
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3.3 Der Beweis (V) und die Widerlegung eines Einwandes (VI)

Gestützt auf diese beiden Gedankengänge und im Rückgriff auf die stoische Forderung nach einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur (solemus dicere summum bonum esse secundum naturam vivere: V1) beweist Seneca nun die Rechtmäßigkeit des Satzes, es sei keineswegs verwerflich und vertrage sich mit der stoischen Lehre, wenn man sein Leben in den Dienst der Kontemplation und damit des otium stelle. Für ihn hat die Natur selbst dem Menschen das Bedürfnis eingepflanzt, den Kosmos in seiner Schönheit und Erhabenheit in den Blick zu nehmen und ihm die Geheimnisse seiner Existenz zu entlocken; denn ohne die Neugier des Menschen bliebe sie gänzlich unentdeckt und verharre in der Einsamkeit, was nicht der Sinn dieser vollkommenen Einrichtung sein könne: Curiosum nobis natura ingenium dedit et artis sibi ac pulchritudinis suae conscia spectatores nos tantis rerum spectaculis genuit, perditura fructum sui, si tam magna, tam clara, tam subtiliter ducta, tam nitida et non uno genere formosa solitudini ostenderet. (V3)

Eine weitere Aufgipfelung erfährt dieser Gedankengang dadurch, dass Seneca den Erkenntnisdrang des Menschen nicht auf die sinnlich erfahrbare Welt beschränkt, sondern ihn nach einer Welt jenseits der sichtbaren kosmischen Phänomene fragen lässt: Cogitatio nostra caeli munimenta perrumpit nec contenta est id quod ostenditur scire: 'illud' inquit 'scrutor quod ultra mundum iacet […]' (V6) Nimmt man die Komplexität dieser Aufgabe ernst, so wird es sogleich verständlich, dass eine noch so lang bemessene Lebensdauer nicht genügt, um das Aufgegebene zu bewältigen. Folglich ergibt sich an dieser Stelle nur der eine Schluss: Ein Leben im Dienst der Naturbetrachtung entspreche angesichts der Größe der zu bewältigenden Aufgabe der stoischen Forderung nach einem Leben gemäß der Natur und stehe – so darf man wohl ergänzen – nicht im Widerspruch zu der Lehrmeinung Zenons, der Weise werde sich für den Staat engagieren, außer wenn ein Hinderungsgrund eingetreten sei; erblickt Seneca doch in dieser Form der Kontemplation gleichzeitig eine Aktivität, deren Nutzen nicht auf einen Einzelnen beschränkt ist, sondern weitere Kreise zieht und alle Bürger eines Gemeinwesens im Blick hat (vgl. III2-5): Ergo secundum naturam vivo si totum me illi dedi, si illius admirator cultorque sum. Natura autem utrumque facere me voluit, et agere et contemplationi vacare: utrumque facio, quoniam ne contemplatio quidem sine actione est. (V8) Hiermit ist der Beweis des ersten Teils der Behauptung aus dem zweiten Kapitel erbracht; auf den Beweis des zweiten Teils verzichtet Seneca wohl deswegen, weil die erste Behauptung die zweite einschließt und diese daher keiner besonderen Begründung bedarf.

Gleichsam als Nachtrag zu dem soeben ausgeführten Beweis legt Seneca einem fictus interlocutor einen Einwand in den Mund, der auf die Motive abzielt, die einen Menschen dazu bringen, sich der Kontemplation zu verschreiben: Sind es letztlich doch nicht Genuss (voluptatis causa: VI1) und Freude an einer Kontemplation ohne Ende (adsiduam contemplationem sine exitu), die das otium als die geeignete Lebensform erscheinen lassen? Für Seneca ist dieser Einwand nur ein theoretischer, da er einer Überprüfung an der Realität nicht standhält. Mag es durchaus richtig sein darauf zu achten, dass die Ergebnisse des Nachdenkens durch eine entsprechende Praxis konkrete Gestalt annehmen (Quis negat illam [sc. virtutem] debere profectus suos in opere temptare, nec tantum quid faciendum sit cogitare sed etiam aliquando manum exercere et ea quae meditata est ad verum perducere?: VI3), so kommt man gleichwohl an der Feststellung nicht vorbei, dass Stoiker wie Cleanthes, Chrysippus und Zenon zwar niemals politisch aktiv gewesen sind, aber dennoch der Menschheit durch ihr der Muße gewidmetes Leben einen großen Dienst erwiesen haben: Nos certe sumus qui dicimus et Zenonem et Chrysippum maiora egisse quam si duxissent exercitus, gessissent honores, leges tulissent; quas non uni civitati, sed toti humano generi tulerunt. (VI4)
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4. Epikritische Weiterführungen (VII-VIII)

4.1 Die drei Lebensformen (VII)

Nachdem Seneca erfolgreich die Kompatibilität des otium mit den Grundsätzen der stoischen Lehre aufgezeigt hat, wendet er sich nun den drei Lebensformen zu, dem genießenden, dem betrachtenden und dem tätigen Leben, die nach traditionellem Verständnis in einem kontradiktorischen Verhältnis zueinander stehen. Aber ist es unter Berücksichtigung dessen, was bisher gesagt worden ist, erlaubt, diese Dreiteilung aufrechtzuerhalten und in Abhängigkeit von dem jeweiligen philosophischen Standort einer der drei Lebensformen einen exklusiven Status zuzubilligen? Seneca verneint diese Frage überaus deutlich, indem er herausstellt, dass die eine Lebensform nicht ohne die andere denkbar und das menschliche Leben in seinem konkreten Vollzug auf alle drei Haltungen angewiesen ist: nec ille qui voluptatem probat sine contemplatione est, nec ille qui contemplationi inservit sine voluptate est, nec ille cuius vita actionibus destinata est sine contemplatione est. (VII1) Mit Blick auf die Kontemplation bedeutet dies, dass sowohl der tätige Mensch ihrer bedarf als auch der dem genussreichen Leben anhängende, will er nicht auf die Vernunft verzichten, die dafür sorgt, dass ihm ein auf Beständigkeit angelegter Genuss beschieden ist. Auch wenn die Kontemplation für den Stoiker nicht das letzte Lebensziel sein kann, so hat sie für ihn, metaphorisch gesprochen, den Stellenwert eines Ankerplatzes – wenn auch nicht den eines endgültigen Hafens –, an dem es ihm möglich ist, eine Zeit lang zu verweilen: Quo pertinet haec dicere? ut appareat contemplationem placere omnibus; alii petunt illam, nobis haec statio, non portus est. (VII4)
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4.2 Der notwendige Rückzug aus dem politischen Leben (VIII)

Wie ist es nun angesichts der bisherigen Darlegungen um die Gültigkeit des stoischen Satzes bestellt, dass der Weise am Staatsleben teilnehmen werde, wenn es keinen Hinderungsgrund gebe (vgl. III2)? Bei kritischer Betrachtungsweise ist es für Seneca unmöglich, einen Staat zu finden, der den Idealvorstellungen des Weisen entspricht, da alle Gemeinwesen in sich unzureichend sind und infolge ihrer Entartungserscheinungen dem Weisen zu viele Kompromisse auferlegen, als dass er sich aus Überzeugung einer politischen Betätigung zuwenden könnte: Si percensere singulas (sc. res publicas) voluero, nullam inveniam quae sapientem aut quam sapiens pati possit. (VIII3)

So erweist sich für Seneca unter den gegebenen Verhältnissen und unter dem Eindruck der Verderbtheit der Politik das otium als die dem Weisen kongeniale Lebensform, die es ihm ermöglicht, sein Leben in den Dienst der Naturforschung zu stellen und auf diese Weise der Menschheit zu nützen. Die Freude an den ewig gültigen Erkenntnissen und der Rückzug aus den Entstellungen und Unzulänglichkeiten dieser Welt sind jetzt der Inbegriff eines philosophischen Lebens und eines die Oberflächlichkeit des Alltags transzendierenden Lebenssinns.

Mit seiner zweiten epikritischen Feststellung setzt Seneca zwar nicht – wie es den Anschein haben könnte – die stoische Dogmatik außer Kraft, aber er betrachtet wohl auch unter dem Eindruck seines eigenen Rückzugs aus dem politischen Leben die politischen Gebilde unter einer strengeren philosophischen Perspektive, die ihn einen für römische Verhältnisse sehr idealistischen Standpunkt einnehmen lässt. Für den amerikanischen Altphilologen G.D. Williams erweist sich diese Position Senecas am Ende seines Traktates De otio als ein Denkresultat, das sich aufgrund des Stellenwertes, den er der intellektuellen Lebensführung in ihrer Hinordnung auf die Kontemplation als ihren wesentlichen Inhalt zuschreibt, notwendigerweise ergibt:

"What gives this argument here a compelling force […] is the intervening elaboration of the highly sophisticated intellectual life identified with contemplatio (5.3-8) and the demonstration that it is not self-serving but of use to the wider human community (4.2) and to prosperity (6.4). Led stage by stage through this argument, we now acknowlege […] the difficulty of integrating such an elevated, idealized icon-figure into the morally ambivalent ethos prevailing in any actual city. Lifelong exemption, then, will always be an open possibility, indeed a necessity, for those whose universal contribution can justify their status." (Seneca, De otio – De bevitate vitae, edited by G.D. Williams, Cambridge University Press 2003, p. 112)

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